Zum Tode von Gottfried Freiherr von Cramm
Schon zu Lebzeiten eine Legende, vor allem für die Nachgeborenen, die ihn nie haben spielen sehen, wird Gottfried von Cramm für seine Generation über seinen jähen Tod hinaus Vorbild und Beispiel bleiben. Seine Leistung für den deutschen Tennissport ist mit Worten kaum ausreichend zu würdigen.
Dem schlanken, nicht gerade kräftig wirkenden Freiherrn aus altem niedersächsischen Adelsgeschlecht hatten die wenigsten eine große Tenniskarriere zugetraut. Ende der zwanziger Jahre galt er unter Fachleuten, die auf der Suche nach würdigen Nachfolgern des Dreigestirns Froitzheim, Kreuzer und Rahe waren, deren Können dem deutschen Tennis zu einer ersten Weltgeltung verholfen hatten, zwar als eine große Begabung. Doch seiner Spielkunst schienen Grenzen gesetzt zu sein; seine Spielweise verriet wenig Cleverness.
In keinem deutschen Tennis-Jahrbuch ist in der langen Reihe von Juniorenmeistern sein Name zu finden. Nur Feo Hartz, Jahrgangsgenosse und Doppelpartner, erinnerte sich, als er am 9. November die Schreckensnachricht aus Ägypten -hörte: „1927 holten wir uns beide die Doppelmeisterschaft der Junioren; das weiß wohl heute keiner mehr!“

Gottfried von Cramm
Im Jahre 1929 keimte neue Hoffnung auf. Gottfried von Cramm wurde deutscher Hochschulmeister, doch sehr viel mehr hörte man von dem inzwischen dem LTTC Rot-Weiß angehörenden jungen Adligen aus Hannover nicht. Ende des Jahres las man seinen Namen auf Platz 10 der deutschen Rangliste. Im Jahr darauf gab es sogar einen Rückschlag.
Im Jahre 1931 bemühte sich der deutsche Tennisbund erneut um eine starke Daviscupmannschaft. Die Lücke, die der an der Jahreswende 1929/30 tödlich verunglückte Hans Moldenhauer hinterlassen hatte, war noch immer nicht geschlossen worden. Obendrein hatte man Daniel Prenn aus Gründen gesperrt, die heute nur Verwunderung auslösen können. Dr. Heinz Landmann, einzig wirklich potenter Spieler neben Prenn, fühlte sich indisponiert und sagte ab. Fast gleichzeitig mit einer ·schlimmen 0:5-Niederlage, die ein schwaches deutsches Team in Düsseldorf gegen die Südafrikaner erlitt, ging in Athen ein neuer deutscher Stern auf: Gottfried von Cramm wurde im Kampf mit guter internationaler Konkurrenz Meister von Griechenland. Aber noch wußten viele die Bedeutung dieses Erfolges nicht zu schätzen.
Dem brillianten Erfolg von Athen folgten im gleichen Jahr weitere. In Wimbledon wurde der berühmte Ungar Bela von Kehrling bezwungen, doch Fred Perry, ehemaliger Tischtennis-Weltmeister, ebenfalls am Beginn einer glanzvollen Laufbahn, stoppte den jungen Tennisbaron im Viertelfinale. Es war die erste vieler Tennisschlachten, die sich die beiden, in den nächsten Jahren besten Europäer liefern sollten.
Der endgültige Durchbruch zur Spitze vollzog sich im Laufe des Jahres 1932. In Harnburg wurde von Cramm zum ersten Male Internationaler Meister von Deutschland, ein Titel, den er noch fünfmal erringen sollte, zum letzten Male 17 Jahre später 1949.
In den nächsten Jahren holte er sich Titel um Titel, deutsche und ausländische, darunter dreimal den nach Wimbledon bedeutendsten, die Meisterschaft von Frankreich. 1933 wurde er mit Hilde Krahwinkel-Sperling Wimbledonsieger im Gemischten Doppel. Dreimal erreichte von Cramm das Wimbledonfinale, 1935, 1936 und 1937, jedesmal von einem Stärkeren besiegt, zweimal von Perry und einmal von Budge. Wohl blieb es ihm versagt, die höchste Sprosse der Ruhmesleiter zu erklimmen, aber die Tenniswelt billigte ihm, dem untadeligen Vorbild, den höchsten Rang zu.

Schloß Bodenburg bei Salzdetfurth im südlichen Niedersachsen, Sitz der Familie von Cramm. Hier nahm eine unübersehbare Trauergemeinde, unter ihnen Spieler der letzten fünf Jahrzehnte von Rang und Namen, aber auch aus der jüngeren Generation wie Wilhelm Bungert, Dr. Christion Kuhnke und Harald Elschenbroich Abschied von dem Manne, der wie keiner vor ihm das deutsche Tennis in der Weit hervorragend repräsentiert hat.
Seit 1932 auch stärkste Stütze der Daviscupmannschaft, die 1929 eine große Hoffnung erweckenden Vorstoß in die Phalanx der bisher führenden Nationen unternommen hatte, jedoch nach Moldenhauers frühen Tod wieder in die Mittelmäßigkeit zurückfiel, war es von Cramms Aufstieg zum Weltklassespiel.er zu verdanken, daß zwischen 1932 und 1937 viermal das Europazonenfinale erreichte wurde.
Dreimal verhinderten die Superstars aus den USA, Vines, Shields, Allison, van Ryn, Budge, Grant und Mako, einmal die Australier Quist, Crawford und McGrath den totalen Triumph Deutschlands.
Erinnern wird man sich immer wieder der großen Tennisschlacht Budge – von Cramm 1937 auf Wimbledons Rasen, die von den Augenzeugen jener großen Zeit des deutschen Tennis „das Spiel der Spiele“ genannt wird. In dem mörderischen Kampf, der Tausende im Grunde unbeteiligter Engländer in seinen Bann schlug, führte von Cramm nach zwei gewonnenen Sätzen im 5. Satz mit 4:1 und noch einmal mit 6:5, aber der rothaarige Kalifornier Donald Budge, eine wahre Kampfmaschine, siegte, wie „von einer höheren Eingebung beflügelt“ – so Roderich Menzel- noch 8:6 und sicherte damit die weitere Davispokalvorherrschaft der Amerikaner.
Die „Ära Cramm“ – so schien es – sollte erst kommen. Perry trat ins Profilager über, Budge wollte ihm bald folgen. Da beendete im Frühjahr 1938, gerade im Augenblick der Rückkehr von einer erfolgreichen Australien-Turnierreise, eine moralische Diffamierung seine Laufbahn. Der totalitäre Staat, dem jeder in gehobener sozialer Stellung, der sich Distanz leisten kann, verdächtig ist, bezichtigte Cramm schlimmer Vergehen. Der Inhaft1erung folgte die Disqualifikation. Cramm war ein Ausgestoßener. Trotz allen Leides, an dem er fast zerbrach, konnte er 1939 im Ausland noch mehrere Male beweisen, daß er noch immer zu den Weltbesten zählte. Im Queens Club London wurde Wimbledonsieger Bobby Riggs überzeugend geschlagen. In Ägypten mußte der Sieger von Paris, der Amerikaner McNeill, zweimal Cramms Überlegenheit anerkennen.
Mit seiner Einberufung zur Wehrmacht schien die Diffamierungskampagne zum Stillstand zu kommen, doch die alten Widersacher regten sich .erneut, als sein Name auf einer Offiziersanwärterliste erschien. Er wurde entlassen. In dieser schlimmen Zeit erwies sich Schwedens tennisbegeisterter König Gustaf V. als ein wahrer Freund. Er gewährte ihm Asyl. Doch noch vor dem sich abzeichnenden Ende des Deutschen Reiches kehrte von Cramm auf den Familienbesitz in Bodenburg zurück.

Erinnerungen an ein großes Wimbledonfinale: Gottfried von Cramm erreichte 1935 zum ersten Male das Endspiel im Herreneinzel, wo er die Überlegenheit des Vorjahrssiegers Fred Perry nach großem Kampfe anerkennen mußte. Auch im folgenden Jahre stand von Cramm wieder im Finale und abermals siegte der körperlich stabilere Engländer.
Ein neuer Abschnitt seines Lebens begann. Von seinen vielen Aktivitäten in jener schweren Zeit interessiert vor allem sein großer Anteil am Wiederaufbau des deutschen Tennissportes. Sein Ansehen im Ausland war ungebrochen. Es kam dem neugegründeten Deutschen Tennis Bund zugute. Die rasche Wiederaufnahme in den Kreis der Tennisnationen ist hauptsächlich Cramms Verdienst.
Ein sportliches Comeback des nunmehr schon 37jährigen hatten nur wenige für möglich gehalten. Doch zweimal noch holte er sich die Internationale Meistenschaft von Deutschland, dreimal war er mit dem jungen Amerikaner Budge Patty im Doppel erfolgreich. Die Besten einer jüngeren Generation mußten seine noch immer große Spielstärke zur Kenntnis nehmen. Bis 1953 blieb er die stärkste Stütze der deutschen Daviscupmannschraft, für die man vergeblich einen zweiten Mann von der Qualität eines Henner Henkels suchte, der 1943 auf dem Schlachtfeld von Woronesch verblutet war.
Als von Cramm schließlich, inzwischen 44jährig, jüngeren Spielern Platz machte, hatte er mit 37 Einsätzen innerhalb eines Zeitraums von 21 Jahren einen Daviscuprekord aufgestellt, den erst der 30 Jahre jüngere Wilhelm Bungert überbieten sollte. In einem knappen Vierteljahrhundert hatte von Cramm 27 deutsche Titel gewonnen, fünf nationale, vierzehn Internationale und acht in der Halle.
Groß die Zahl der Ehrungen, die ihm zuteilwurden: die Ehrenmitgliedschaft im DTB, die Goldene DTB-Ehrennadel, die Goldene Ehrennadel des Berliner Tennis- Verbandes, das Silberne Lorbeerblatt der Bundesrepublik Deutschland, das Goldene Band des Vereins Deutsche Sportpresse (1952). Zweimal – 1947 und 1948 – wurde er zum „Sportler des Jahres“ gewählt.

Gottfried von Cramm (links im Bild) in seinem zweiten Erfolgsjahr (1932). Mit dem fünf Jahre älteren Daniel Prenn (rechts) bildete er auf Anhieb ein großartiges Doppel, das jedoch seine Weltklasse nie beweisen konnte, weil Prenn 1933 emigrieren mußte.
Vielen unbekannt geblieben ist seine karitative Tätigkeit. Er war Mitbegründer des Evangelischen Hilfswerkes. Zeit seines Lebens auf engste verbunden blieb er dem Lawn-Tennis-Turnier- Club Rot-Weiß, dem er in späteren Jahren trotz zunehmender geschäftlicher Verpflichtungen als Präsident vorstand. Er tat sein Möglichstes, Rot-Weiß und damit auch Berlin als ein Zentrum des deutschen Tennissports zu erhalten. Hier gründete er auch den „Internationalen Club von Deutschland“ eine Vereinigung alter und junger Spitzenspieler, für den er den Prinzen Louis Ferdinand von Preußen als Ehrenpräsidenten gewann.
Fast unübersehbar war die Schar derer, die dem Repräsentanten einer Sportepoche, in der Geist, Haltung und Ritterlichkeit noch bestimmend waren, das letzte Geleit gaben. Die Trauerfeier in der Johannis-Kirche zu Bodenburg, für die der Geistliche das Lob-Wort „Gott tut große Dinge, die wir nicht begreifen“, gewählt hatte, entsprach der Bedeutung der Persönlichkeit Gottfried von Cramms.
Bundespräsident Scheel, Bundeskanzler Schmidt und Bundesinnenminister Maihofer hatten Beileidstelegramme gesandt. DTB-Präsident Walther Rosenthal, Dr. Walter Wülfing für das NOK und den DSB sowie Franz Feldbausch für die Spieler sprachen Worte des Gedenkens.
Dann wurde der Sarg, dem die Brüder Ernst-Wilhelm, Siegfried und Burghard von Cramm folgten, aus der Kirche getragen und nach Schloß Oelber überführt. Hier in der Gruft der freiherrlichen Familie von Cramm ruht die sterbliche Hülle des Mannes, der als Mensch und Tennissportler eine einmalige Erscheinung bleiben wird.
(Aus dem Berliner Tennis Blatt, Ausgabe Dezember 1976)